Meilensteine im Leben einer Redakteurin

von Helene Walterskirchen:

Renate Lilge-Stodieck:
Meilensteine im Leben einer Redakteurin

Renate Lilge-Stodieck beim Interview in Schloss Rudolfshausen

Es gibt Begegnungen der flachen Art und solche der tiefen Art. Meine Begegnung mit Renate Lilge-Stodieck im Mai 2019 war eine der tiefen. Uns beiden gemeinsam war die Vorfreude auf unser erstes Treffen, spürten wir doch beide, dass es etwas Besonderes sein würde. Sie kam über Umwege mit ihrem Auto aus Berlin nach Schloss Rudolfshausen. Wir begrüßten uns, umarmten uns, es war, als würden wir uns schon lange kennen. Bei grünem Tee und Apfelkuchen kam sehr schnell ein lebhaftes Gespräch in Gang, das getragen war von Sympathie und gegenseitigem Vertrauen.

Wenn es einen „Rat der weisen Frauen“ gäbe, der über dem politischen Geschehen läge und die Fäden in der Hand hätte, Renate Lilge-Stodieck wäre eine von ihnen. Sie ist eine ausgereifte Persönlichkeit, ist eine Blüte am Baum der Weisheit. Wer ihr gegenübersitzt und mit ihr spricht spürt ihre innere Ruhe und Gelassenheit.

Sie redet mit dunkler Stimme und bedächtig, jedes Wort scheint sorgfältig gewählt, jeder Satz ist begleitet von einem Ausdruck, sei dies Freude oder Traurigkeit, sei dies Betroffenheit oder Verschmitztheit. Als ausgebildete und heute noch praktizierende Stimmpädagogin beherrscht sie die Klaviatur der stimmlichen Ausdrucksfähigkeit. Damit übt sie eine gewisse Faszination auf ihr Gegenüber aus, denn man trifft nur selten Menschen mit einer solchen Qualität. Die meisten reden entweder monoton und nichtssagend oder aufgeregt und hastig. Das Reden verkommt zu einer Plapperei oder Schwafelei. Bei Renate Lilge-Stodieck wird das Reden zelebriert, werden Nuancen zu Höhepunkten, bekommt selbst Unwichtiges eine Färbung und erhält dadurch eine Bedeutung.

Wie wird ein Mensch eine Blüte am Baum der Weisheit? Bekommt man das Talent dazu in die Wiege gelegt? Oder sind es die Umstände des Lebens, die dazu führen? Renate Lilge-Stodieck war, wie sie selbst sagt, ein ängstliches und schüchternes Kind, geboren im Zweiten Weltkrieg, 1943, im Osten von Berln. Sie war aber auch ein begabtes Kind, das Interesse an vielen Dingen hatte und ausgesprochen wissbegierig war. Ihre Eltern, beide Apotheker, schulten sie deswegen früh ein.

Während der Schulzeit wurde Renate oft von ihren Mitschülerinnen wegen ihrer Schüchternheit und Weinerlichkeit gehänselt. Deshalb beschloss sie eines Tages, als sie bereits die Oberschule besuchte, etwas zu tun, was Mut und Offenheit braucht: Sie meldete sich bei der Schülerin, die für die Schülerzeitung zuständig war, und bekundete, dass sie dort mitarbeiten wollte. Und so wurde sie, die stets sehr gute Noten in Deutsch hatte, Redakteurin und später sogar Chefredakteurin der Schülerzeitung.

Ein Meilenstein in dieser Zeit war eine vierwöchige Indienreise im Zusammenhang mit der indischen Organisation „Share your Toys“, die einen Schreibwettbewerb an Berliner Schulen ausgeschrieben hatte, an dem sie teilnahm und ausgewählt wurde. „So flog ich als 17-Jährige nach Indien“, erzählt Renate Lilge-Stodieck, „was damals, in den 60er Jahren, als Reisen noch nicht so verbreitet war wie heute, etwas Außergewöhnliches war. Mit dabei waren eine Lehrerin, ein weiterer Schüler, ein Reporter von der „Morgenpost“ und auch ein Team vom Fernsehen. Diese Reise in eine völlig andere Kultur hat bei mir einige Vorhänge aufgemacht.“

Renate Lilge-Stodieck traf auf dieser Reise nicht nur den indischen Ministerpräsidenten Nehru, sondern auch den Vizepräsidenten Sarvepalli Radharkrishnan, der einen ganz besonderen Eindruck auf sie machte. „Radharkrishnan, damals Mitte 70, unterhielt sich mit uns als spiele Zeit keine Rolle. Er beeindruckte mich durch seine tiefe Ruhe und Gelassenheit. Er erzählte davon, dass er die Bagavad Gita ins Englische übersetzt hat, dass er, wie Gandhi, im englischen Gefängnis gesessen hat und selbst in dunkelsten Zeiten immer das Gefühl gehabt hat, die höchste Kraft habe ihn nicht verlassen. Er sprach so hingebungsvoll von dieser höchsten Kraft, die ihn immer in seinem Leben begleitet hat, dass ich, kaum zu Hause angekommen, mir das aufschrieb, um es nur ja nicht zu vergessen.“

Kurz nach dem Abitur heiratete Renate Lilge-Stodieck und wurde Mutter, eine Aufgabe, die sie in den nächsten Jahren voll in Anspruch nahm. In diese Zeit fielen drei weitere Meilensteine ihres Lebens: Erstens die Gründung einer Fraueninitiative und die Begegnung mit der Politik, zweitens der Eintritt in den Rundfunksender „Freies Berlin“ als freie Journalistin und drittens die Aufnahme einer Stimm- und Gesangsausbildung bei einer Stimm- und Atempädagogin, die sie neun Jahre durch ihr Leben begleitete und eine wichtige Person in ihrem Leben war.

Renate Lilge-Stodieck berichtet: „Die Fraueninitiative gründete ich zusammen mit einer Lehrerin aus der Klasse meines Sohnes. Anlass dafür war, dass die Schule mobile Klassenräume brauchte, verursacht durch die geburtenstarken Jahrgänge, zu denen auch mein Sohn gehörte. Wir dachten beide: Frauen sind klug genug, um für ihre Belange selbst einzutreten. Deswegen sollten sie sich auch an politischen Prozessen beteiligen. Deswegen entwarfen wir ein Konzept, welches von der Zeitung „Der Tagesspiegel“ veröffentlicht wurde. Internet gab es damals noch nicht. Dieses Konzept schickten wir an Zeitungen, um es zu veröffentlichen und so Frauen aufzurufen, sich an unserer Initiative zu beteiligen. Es meldeten sich 200 Frauen und so starteten wir mit unserer Bürgerinitiative. Wir hatten etliche sozial engagierte Themen, für die wir uns einsetzten und zwar ziemlich erfolgreich, so dass so manche Politiker vor uns zitterten. Als es jedoch darum ging, aus der freien Initiative eine Frauenpartei zu machen, haben wir beide abgelehnt. Die Lehrerin wollte gerne Lehrerin bleiben und ich war gerade so am Werden.“

Das erste Gedicht von Renate Lilge-Stodieck entstand 1956 als die Russen in Ungarn einmarschierten, weitere Gedichte folgten, aber auch andere Werke, z.B. ein Hörspiel, mit dem sie sich bei einem Sender in Berlin bewarb, jedoch abgelehnt wurde. Sie berichtet: „Durch Vermittlung eines Bekannten kam ich zum Rundfunksender „Freies Berlin“, dem mein Hörspiel zwar gefiel, jedoch nicht in deren Programm passte. Statt dessen erhielt ich ein Angebot, über andere Themen zu schreiben. So wurde ich freie Journalistin beim Rundfunk „Freies Berlin“, was ich gut mit meinen privaten Aufgaben vereinbaren konnte. Als man dort wollte, dass ich meine Stimme ausbilde, habe ich eine Stimm- und Gesangsausbildung bei einer Therapeutin begonnen. Dass daraus einmal ein Beruf werden und ich eine eigene Praxis haben würde, habe ich damals noch nicht geahnt.“ …

Gene können Sie im Kultur-Magazin Schloss Rudolfshausen, Edition II/2019, weiterlesen.

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